Zerlegung und Zusammenfügung
Prof. Dr. Frank Günter Zehnder
Zu den Arbeiten von Ralph-J. Petschat anlässlich einer Ausstellung in der Thomas-Morus-Akademie Bensberg, 2006
Der erste Eindruck von den Bildern dieses jungen Malers sagt etwas über Einheit und Vielfalt aus, spricht von Fläche und Kontur, läßt das Zusammenspiel von vielen kleinen – meist unterschiedlichen – Flächen in einer größeren Komposition erfahren. Die Farben gehorchen meist einer Tonlage, - da gibt es Bilder in Dur und Moll -, oder sie changieren in einem Farbton, - vorzugsweise in Rot, Blau, Gelb oder Braun. Andere Bilder arbeiten mit sensibel abgestimmten Kontrasten wie etwa Blau zu Rot oder Blautöne zu Erdfarben.
Das Bild „Bestimmung“ (2005) ist gewissermaßen das Programmbild dieser Ausstellung. Vier unterschiedlich große Quadrate liegen übereinander, wenn man es flächig sieht, ineinander, wenn man es räumlich sieht. Sie vertiefen sich sozusagen vom Bildrand zum Bildkern und bleiben doch alle rotgrundig. Die deutlich erkennbare Kreuzform erreicht auf jeder Seite den Bildrand und markiert das Ausgreifen der Komposition ebenso wie die Überlappung und Durchkreuzung von Flächen. Auch das innere Kreuz folgt diesem Anordnungsprinzip. Der Grundcharakter des Bildes wird von Flächen bestimmt, ohne dass die schwachen Konturen, über die noch gesprochen wird überflüssig wären. Sie sind schlechthin das zarte, aber tragende Gerüst der Bilder.
Die – meist beruhigend und meditativ wirkende – Farbe ist das wichtigste Medium seiner Bilder, sie ist kein Mittel zum Zweck wie etwa eine Lokalfarbe, sie ist befreit von vordergründigen Aufgaben der Realitätsvermittlung. Farbe setzt Ralph-J. Petschat in einer steten Balance von flächiger Komposition und freier kleinteiliger Pinselführung ein. Welche wirkliche malerische Quelle seine Kunst hat, wird vielleicht an der Gegenüberstellung mit einer Zeichnung des französischen Architekten Claude-Nicolas Ledoux (1736-1806) deutlich. Der berühmte Vertreter der strengen Revolutionsarchitektur hat hier in der Grundriss-Zeichnung einer Kirche ebenfalls mit den Formen von Kreuz und Quadrat, von Linie und Fläche gearbeitet. Doch wird bei diesem Vergleich – die Zeichnung ist dem Künstler natürlich unbekannt – überaus deutlich, wie sehr die Malerei, wie sehr die Farbe in allen ihren Potentialen das Primat in der Kunst von Ralph-J. Petschat einnimmt.
Das Bild „Ankündigung“ (2006) zeigt eine andere flächigere Kreuzung, die im Inneren die Farbe wechselt und damit eine gedämpft kontrastierende Bildwirkung erzeugt. Der Maler geht nicht von einer Farbplanung aus, sondern entwickelt unter den Händen Bildstruktur und Farbklang. „Farben sagen mir, wie sie gemalt werden wollen“ sagt Petschat, und es äußert sich darin die besondere Vertrautheit mit dem Material, das er in ständiger Experimentierfreude ausreizt.
Eine signifikante Kreuzung begegnet auch in dem Bild „Geistige Blüte“ (2005), das – in völlig anderer Weise mit den Formvokabeln umgehend – die Souveränität in Komposition und Malweise unterstreicht. Jedes Bild hat gewissermaßen sein eigenes Modulsystem, das sich freilich mit dem anderer Werke berührt. Unter der Beteiligung von Form, Dimension, Farbe und Richtung entstehen völlig unterschiedliche Bildlösungen, bei denen es aber immer um die Begegnung, Durchkreuzung und Zusammenfügung von kleinen und großen Bildflächen geht.
Eine andere Grundform der Bildkomposition steht uns in „Kodex“ (2000) gegenüber, der – blautonig – sein Zentrum in anderer Weise, nämlich ohne Überschneidung, umrunden läßt. Ein Vergleich mit Piet Mondrians (1872-1944) „Tableau I“, 1921 (Museum Ludwig, Köln) offenbart das verwandte konstruktivistische Gestaltungs-prinzip der horizontal und vertikal verlegten Flächen, die durch Linien verbunden werden.
Was zunächst wie Zufälligkeiten daherkommt, was wie eine informelle Spontaneität aussieht, hat nichts mit unverbindlichen Farb- und Formspielereien zu tun, es ist ein Arbeitsprozeß. Dieser läuft in ganz bestimmten Schritten ab, ohne dass er schematisch, automatisch, normierend oder gar kopierend würde. Am Werkprozess des Künstlers ist alles autonom: die Materialwahl, die Art der Bildentstehung, die Stil- und Formensprache, die Inhalte. Die Bilder haben Titel, sie sind also Mitteilungen. Wenn Bilder Titel haben, sollen sie auch in diesem thematischen Kontext verstanden werden, das heißt: die Betrachter sind aufgefordert, Komposition und Bezeichnung bei ihrer Wahrnehmung zu kompilieren, Assoziationen abzurufen und sich bei der Erschließung des Bildes auch – zumindest ein wenig – vom Titel leiten zu lassen. Ansonsten wären Titel ja überflüssig, - was auch nicht unüblich ist.
Bemerkenswert ist aber, dass hier abstrakte Bilder Titel tragen, dass also sich im Entstehungsprozeß einfindende formale Impulse und das Verlangen nach Freiheit vom Gegenständlichen, Natürlichen der äußeren Welt über den Titel doch mit der sichtbaren bzw. erinnerbaren Welt verbinden. Es ist demnach erlaubt und dienlich, die Bilder auch inhaltlich zu durchsuchen und zu lesen. Dabei bemerkt man, dass unsere Vorstellungen korrespondieren. Die Aussagen entwickeln sich vor den Augen, und man ist – wie man so schön sagt – drin: im Dialog, in der Beteiligung am Bild, in der Erkenntnis.
Was in diesem Zusammenhang noch zu sagen bleibt, ist der Hinweis auf die zahlreichen Künstler der Abstraktion – von Pablo Picasso bis Joan Miró, von Willi Baumeister bis Paul Klee. Insbesondere wie Paul Klee verfährt auch Ralph-J. Petschat: Er findet bzw. formuliert die Titel erst vor dem fertigen Bild, sozusagen unter der Fragestellung „Was hab‘ ich denn da geschaffen?“ und stellt so die Verbindung zwischen Bewußtem und Unbewußtem, zwischen Vision und Welt her.
In den beiden kleinformatigeren Bildern „Ausrichtung I“ (2004) und „Ausrichtung II“ (2004), die in ihrer Dichte an Werke des Farbenmystikers Serge Poliakoff (1906-1969) erinnern, wird die variantenreiche Arbeit mit den unterschiedlich dimen-sionierten Flächen und den dadurch markierten Bildrichtungen evident. Es geht in Petschats Werken eben nicht ausschließlich um Farbe, sondern auch um Struktur. Das Verhältnis von Horizontaler und Vertikaler bestimmt nahezu alle Kompositionen, abgesehen von den Werken, die mit unregelmäßigen, nicht geometrischen Formen arbeiten, und mitunter leichten Diagonalen.
So werden Bildrichtungen festgelegt: nach oben oder quer laufende, das Bild durchmessende oder in stille Partien einteilende. So entwickelt sich oft ein sehr eigenwilliges harmonisches Verhältnis von Ruhe und Bewegung, bei dem natürlich auch die heller oder dunkler gesetzten Farben mitwirken. Insgesamt zeigt diese Kunst mit ihrem betonten Gewicht und Klang von Farben und Formen eine gewisse Nähe zum französischen Orphismus, insbesondere zu den Fensterbildern wie „Fenster zur Stadt“, 1912 (Kunsthalle Hamburg) von Robert Delaunay (1885-1941), ohne dass diese Kunstrichtung als Vorbild für Petschat reklamiert werden darf.
Wenn man die unverwechselbare Technik des Künstlers genauer kennenlernen will, helfen vor allem die beiden Bilder „Schweigen“ (1995) und „Spiegel“ (1995), die überhaupt zu den ersten Schöpfungen dieser eigenwilligen Kunstsprache und –Technik gehören. Hier lässt sich gut nachlesen, dass er das Bild im Gesamtzusammenhang einer Fläche auf das Papier malt, sozusagen informell, ruhig und schnell, mit reduzierter, aber höchst lebendiger Farbigkeit. Das so angelegte Bild teilt er im nächsten Schritt mit einem Schnittmuster-Rädchen in kleine Felder auf, die – auf der Rückseite numeriert – auseinandergenommen und einzeln weiter bearbeitet werden. Wenn der Detail-Malprozess abgeschlossen scheint, fügt er die einzelnen Malfelder auf dem Bildträger aus Leinwand oder Nessel – in diesen ersten Bildern dieser Art ist es ausnahmsweise Holz – wieder exakt zum Gesamtbild zusammen.
In der Erscheinung erinnert das ein wenig an die farblich nahestehenden Wandarbeiten von Adolf Luther (*1912) wie „Hohlspiegelobjekt“ (Sammlung Soto), aber auch an vergleichbare Ansätze von Jan Schoonhofen (*1914) und Piero Manzoni (1933-1963). Die Rasterkonturen in den Bildern von Petschat greifen dicht und perfekt ineinander, sie lassen einerseits die Malfläche zu ihrem vollen Recht kommen, - so wie das zum Beispiel auch „Die römische Farbkarte“, 1968 (Museum Ludwig, Köln) des Pop-Künstlers Jim Dine (*1935) zeigt -, verdrängen aber andererseits nicht die rahmenden Spuren der Teilung. Sie spielen einen wichtigen Part in der Bildstruktur. Im Prozess der jeweiligen Bildgestaltung greifen somit Komposition, Malen, Schneiden und in gewisser Weise auch Collagieren eng ineinander.
Das in der gleichen Frühphase entstandene Bild „Wasserspiel“ (1995) führt die nun bereits weiter entwickelte Arbeitsweise in einer an die Realität des Titels erinnernden Farbigkeit fort. Die Annäherung von Bildidee und Welterinnerung wird evident. Alles ist in diesen Bildern gleichberechtigt: die Farben, die Formen, die Abstraktion und die Wirklichkeit, das Gefühl und der Verstand.
Noch abstrakter und zugleich lesbarer wird das alles in dem Bild „Serpentine“ (1998). Über grau-grünlichem Grund liegt eine in mehreren Blautönen gestaltete Fläche, über die sich von unten rechts nach oben links ein hellblauer Felder-Weg in S-Kurven schlängelt. Wie Orientierungszeichen oder Feldmarken liegen die ebenfalls unregelmäßigen hellbraunen Flächen dazwischen. Es ist ein Bild, in dem man fortwährend laufen, sich aber nicht verirren kann. Es hat seinen Eingang direkt vor dem Betrachter und führt mit seinem Ausgang nach oben in die Unendlichkeit der Vorstellung. Man darf dieses Bild also weiterdenken. Einen ähnlichen Ansatz mag man in „Hauptweg und Nebenwege“, 1929 (Museum Ludwig, Köln) von Paul Klee (1879-1940) erkennen, wo die Staffelung vieler kleiner Flächen einen Tiefenzug entwickelt, der die Betrachter intensiv am Bild beteiligt.
Aus einer sich daran anschließenden Werkphase stammt das Bild „Unisono“ (1998), das mit einer nahezu streng symmetrischen Komposition eine massive, schon ein wenig körperlich wirkende Fläche in die Mitte setzt. Trotz der kräftigen Komposition ist es auf Grund der zarten Farbe ein leichtes, ja fast ätherisches Bild. Es berührt sich – wie übrigens die Malwise zahlreicher Bilder von Petschat – mit der zeitgenös-sischen Farbfeldmalerei und vor allem mit der Kunst des Farbgestikers Mark Rothko (1903-1970), was beispielsweise ein Vergleich mit dessen Gemälde „Orange und Lila over Ivory“, 1961 (Dartmouth College Museum, Hannover/USA) belegt.
Zu dieser Gruppe der etwas körperhaften Formen auf durchgehendem Grund im Werk Petschats gehört auch das Bild „Doppelaggregat II“ (1999). Über dem in sanften Farben gehaltenen Grund wirken die massiven fast klappsymmetrischen Formen voluminös, ja schon ein wenig monumental. Das Bild läuft in alle vier Bildrichtungen ein bzw. aus. So ist es nicht ein schwebendes Kompositgebilde, sondern ein statischer Bildkörper. Die auffallende hell-dunkle Klammer in der Bildmitte lässt nichts nebeneinander stehen, sondern verbindet die Bildhälften miteinander, bündelt also gewissermaßen kraftvoll die Energie.
Inhaltlich tangiert das die Ideenwelt von Joseph Beuys (1921-1986), dessen „Doppelaggregat“, 1958-1969 (Museum Ludwig, Köln) in einem übertragenen Sinn als eine Art Kraftwerk zu verstehen ist, das Wärme und Energie vorhält. So mögen beide Werke als Ausdruck für das Soziale, für Menschlichkeit und Gemeinsamkeit – vielleicht bis hin zur Assoziation von Liebe und Ehe - gesehen werden.
Wie Ralph-J. Petschat mit aller Zurückhaltung Körperlichkeit ins Bild bringt, so widmet er sich auch den Fragen der Räumlichkeit. Dass das alles mit dem Formenschatz seiner Bilder möglich ist, erkennt man an dem Bild „Repräsentant“ (2000), das mit den Bildrichtungen der meisten Flächen eindeutig in die Tiefe führt. Darüber hinaus sind Überlagerungen durch dunkle und helle Farben noch Raum verstärkend. Erinnern nicht die oberen Bildteile an Industriearchitektur und vieles andere an Wege und Rampen?
Mit einer sensibel ausgeloteten Räumlichkeit hat man es wohl auch in dem kleineren Bild „Das Unbekannte I“ (2002) zu tun. Wie hier mit der Staffelung von Farbe und mit der Lagerung von Balken in Längs- oder Querrichtung Nähe und Distanz bestimmt werden, zeigt, dass der Maler in der Lage ist, mit unentwegter Deklination seiner Bildformeln und Bildteile den Raum sowohl in die Höhe als auch in die Tiefe zu gestalten. Stehen wir vor einer Gasse oder stehen wir vor einem höheren Bauteil? Beides ist möglich, das Bild beteiligt uns sozusagen an seiner virtuellen Fortsetzung.
Das, was wir in den beiden letzten Bildern gesehen haben wird in immer neuen Formulierungen aus derselben Grammatik heraus variiert. Das kleine Bild „Regel VI“ (2002) belegt die malerische Kraft und Größe im kleinen Format ebenso wie es die Absperrung des Bildhintergrundes und seine beiden Bildrichtungen manifestiert. Und schließlich werden in dem ebenfalls kleinformatigen Bild „Platzierung VI“ (2002) die Werkprinzipien und die Formkraft vor allem der Kreuzungen noch einmal klar erkennbar. Durch die Überlagerung von Flächen mit einer Farbigkeit von hoher Ästhetik wird die zweifache Kreuzform gewonnen, die mit ihren leuchtenden Eckquadraten geradezu an die Kunst des mittelalterlichen Senkemails und des Gemmenkreuzes erinnern mag.
Hier zeigt sich in voller Dichte, dass die Kunst von Ralph-J. Petschat ernst und bedächtig, temperamentvoll und spielerisch ist. Sie pflegt den Dialog zwischen den einzelnen Flächen sowie zwischen den Flächen und dem Bildraum. Lagerung, Richtung, Tiefe, Dichte und Transparenz bestimmen die unterschiedlichen Bildkräfte. Seine harmonischen Kompositionen nähern sich mitunter einem Vexierprinzip und auch mal der Grenze einer Augentäuschung an. Nicht nur die dem Kreuz gewidmeten Bilder, sondern sein gesamtes Oeuvre mit nahezu allen Themen ist von spiritueller Stärke und ein wirksamer Ort für die persönliche Versenkung.
Wir beobachten das gereifte autonome Werk eines jungen Malers, der nicht krampfhaft suchen will, der nicht dem dernier crie auflauert, sondern der – bei aller Experimentierlust – gelassen handelt. Für ihn ist Malen auch ein Pfad der Selbsterkenntnis, an der er die Betrachter beteiligt. So legt er nicht nur die ureigene Technik und eine befreiende Malerei in die Bilder ein, sondern auch die persönliche Empfindung und Haltung. Sie strömen als Ausgleich von rationaler Kühle und emotionaler Wärme, von Atmosphäre und Wirkung aus den Werken heraus. Vielleicht hat er auch diesen Impuls den prägenden Begegnungen mit Werk und Persönlichkeit von Raimer Jochims in den Jahren 1989/90 zu verdanken.
Ralph-J. Petschat sind Ruhe und Bewegung als hintergründige, spirituell und formal tragende Bildelemente wichtig. Ruhe äußert sich sowohl in der meist klar geordneten Struktur als auch in der Flächigkeit der Farbe. Bewegung schaffen die Bildrichtungen, der Rhythmus der vielen kleinen Bildfelder und die Farbkraft. Gemeinsam mit der Ruhe setzen sie geistliche und sinnliche Energie frei. Das unaufdringliche künstlerische Angebot, an ihr teilzuhaben, betrachtet er als eine „Botschaft für den Alltag“.
Copyright: Prof. Dr. Frank Günter Zehnder über Art Agentur/Galerie Spectrum, Euskirchen